Als ich aus meinem Knickser wieder empor ging und sie erwartungsvoll anlächelte, hatte ich die Gelegenheit, diese hohe Dame ausführlich unter Augenschein zu nehmen. Sie war in etwa so groß wie ich, vielleicht ein oder zwei Zoll größer. Sie war blond. Blond, das war wohl die Traumhaarfarbe von vielen Männern, egal ob Europäer oder Inder, dachte ich, die Dunkelhaarige, mir leicht verdrossen. Gewiss stierten viele Männer der nach. Dabei erschien sie als eine rechte Tussi. Ich war hier, und bekam einen solch schnöden Empfang? Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass mir der rote Teppich ausgerollt werden würde, aber hier wurde mir wahrlich der Eindruck vermittelt, als ob meine Ankunft nur der Anlass für Verdruss und Trauer sein würde! Da kann ich gleich nach London zurückreisen, dachte ich mir selber grantig, wohl wissend, dass ich das nicht tun würde – mein Vater hatte alles in Bewegung gesetzt, um seine kleine „britische“ Tochter in einer richtig schön britischen Rolle, als Zofe einer hohen Dame, zu haben.
Und nun war ich hier, und wurde mit Abschätzigkeit behandelt. Das sah ich schon daran, wie die Dame, dieses blonde Püppchen, ihre Augenbrauen zusammenzog. Erst musste ich mit meinem Scheißkorsett in die bitterste Provinz rumpeln, und dann musste ich es mir gefallen lassen, hier in Portsmouth von irgendeiner noblen Wachtel inspiziert zu werden wie ein Perserteppich am Markt der Zoroastrianer in Bombay. Na das konnte ja was werden.
Freilich wusste ich nicht, dass ihr Bruder gestorben war. Und, um ganz, ganz zutiefst ehrlich zu sein, ging mir das auch nicht so nahe. Von Natur aus war ich noch nie ein Mensch gewesen, der es gerne zuließ, nicht im Mittelpunkt zu stehen und meine eigenen Gefühle gegenüber denen von anderen niedriger zu setzen. Vielleicht, ja nur vielleicht, hatten mich meine Eltern ein wenig zu sehr verhätschelt. Das war mir sogar tief drinnen bewusst, und manchmal fühlte ich mich sogar schuldig deswegen. Doch war es für den Menschen schwer, aus seiner Haut zu können. Und meine Haut war die von Dipali Maurya, die nicht zurückstecken wollte, und nicht von irgendeiner frommen Schachtel, die alles über sich ergehen ließ. Gutes Karma ansammeln konnte ich noch immer… morgen. Oder übermorgen. Oder sonst irgendwann.
Zurück zu meiner neuen Herrin. Ich fasste die nicht. Jetzt gab sie auch vor, meinen Namen nicht verstanden zu haben. Wenn sie glaubte, mich damit aus der Reserve zu bringen, hatte sie sich getäuscht.
Ich machte weiterhin mein süßes, serviles und höfliches Lächeln zu ihr, als sei es mir die größte Freude in der Welt, gerade vor ihr zu katzbuckeln. “Dipali Maurya“, wiederholte ich langsam. Ich mochte nicht wirklich den Klang meiner eigenen Stimme, wenn ich auf Englisch sprach. Ich wurde und wurde meinen Akzent nicht richtig los. Die Angewohnheit, zu versuchen, jede Silbe gleichmäßig auszusprechen, wie auf Gujarati oder Hindi, war einfach sehr tief verwurzelt in mir, auch wenn ich natürlich die Betonungen der englischen Worte kannte – und mich ansonsten auch sehr gut, fließend und verständlich in jener Sprache ausdrücken konnte.
Wenigstens konnte ich mich würdevoll geben. Ich streckte meinen Rücken durch und richtete meinen Blick in ihre Augen. “Dipali heißt Lichterkette, Madam“, sah ich mich bemüßigt, meinen Namen zu erklären, sodass dies ihr als Gedächtnisstütze dienen konnte. “Und Maurya, wie das alte indische Reich.“ Oh ja, die Mauryas. Früher hatten sie über ganz Indian geherrscht, damals, als noch die Römer in Europa an der Macht waren. Zersplittert war ihr Reich, erloschen ihr Glanz… und wir, meine Familie, wir hatten denselben Nachnamen wie sie. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht aber, vielleicht waren wir die Abkömmlinge eines Sprosses jener edlen Familie, der im Kastensystem herabgerutscht war und in den Handel gegangen war… niemand wusste es, aber wenn ich genau hinhorchte in der Nacht, im Bett, hörte ich das imperiale Blut durch meine Venen pumpen. Würde sie überhaupt wissen, wer die Mauryas gewesen sind? Ich sah mich schon Lehrstunden in indischer Geschichte ausgeben – hoffentlich konnte ich dem aus dem Weg gehen.
Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir hielt. Nun, so wie sie mich anschaute, konnte einem nichts Gutes schwanen. Nicht einmal Interesse? Immerhin konnte ich doch mit einem durchaus dramatischen Auftritt punkten. Ich war schön (und wusste es) und innerhalb jener von käsebleichen, kalkfarbenen, mondgesichtigen Menschen bevölkerten Insel denkbar exotisch – auch wenn ich nicht wirklich so unglaublich dunkel war, immerhin kam ich nicht aus Südindien. Umso besser; eine zu dunkle Hautfarbe entsprach nicht dem indischen Schönheitsideal. Schon alleine aufgrund meines Aussehens bekam ich Aufmerksamkeit, und das war auch gut so. Mit offener Ablehnung aufgrund meiner Herkunft hatte ich selten zu tun gehabt – was wohl meinem behüteten Aufwachsen in einer wohlhabenden Familie, umrundet von Indern und von Indern gewöhnten Briten, geschuldet war. Möglicherweise würde das alles nun anders werden, aber ich wollte mal nicht im Vorhinein davon ausgehen.
“Ist alles in Ordnung, Madam?“, rang ich mich endlich zu einer Frage bezüglich ihres Befindens durch. Ich schaffte es dabei sogar, durchaus besorgt auszusehen. Nun, das schaffte ich sogar ganz überzeugend. Weil wenn die Dame irgendeine Cholera entwickelte, würde ich auch ganz tief im Schlamassel mit stecken, und das wäre eine ziemlich negative Entwicklung für mich. Ich wusste, was Krankheiten aus einem Menschen machen konnten – zuhause, in Bombay, war das Lager der Leprakranken unübersehbar gewesen. Und auch die Bettler mit Krätze, Aussätzen, Cholera und Ruhr, all die armen und kranken Menschen, welche sich allmorgendlich durch das Bazartor schoben, um am Hauptplatz der Stadt betteln zu können. Brrr. Die Vorstellung alleine! Plötzlich sah ich den Fellmantel, in den sie gewickelt war, nicht mehr als ein Kleidungsstück gegen die Kälte des heutigen Tages – denn der Meereswind war wirklich kalt – sondern als ein Symptom eines Fiebers. Bei Krishna! Ich betete innerlich, dass Elizabeth nicht eine von jenen Erkrankungen haben würde, die eine Gefahr für mich bergen würden.
Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »Dipali Maurya« (19. Mai 2015, 02:23)